Wenn nun aber feststeht: Hier wurde falsch behandelt, es ist ein Schaden entstanden und Betroffene können Schmerzensgeld durchsetzen. Wie viel Geld ist eine gewaltvolle Geburtserfahrung wert?
Das ist tatsächlich immer eine Einzelfallentscheidung. Es kommt auf das konkrete Schadensausmaß aber auch auf das Gericht sowie auf die Präsentation des Sachverhalts an. Deshalb rede ich mit dem Gericht Tacheles. Da kommt vielleicht auch ein bisschen meine Ruhrpott-Schnauze durch, dass ich nicht nur Diagnosen mitteilen, sondern auch
mal erkläre, was das denn konkret bedeutet. Ich hatte das erst neulich bei einem Verfahren, mit dem Vorwurf, dass wahnsinnig viele vaginale, medizinisch nicht indizierte Untersuchungen gemacht worden sind, teils ohne dass sich die Ärzt:innen vorher vorgestellt haben. Da fragte mich dann die Richterin: „Na gut, Frau Diehl, was meinen Sie denn, was das an Schmerzensgeld wert ist?“ Ich sagte dann: „Ich stell die Frage mal anders: Was ist es Ihnen wert, wenn Ihnen jemand ungefragt zwei Finger in die Vagina schiebt?“ Und dann war Stille im Raum. Ich habe mich zwar im Nachhinein für meine Wortwahl entschuldigt, aber ich musste es einfach mal deutlich machen, denn eine vaginale Untersuchung klingt so technisch und beschreibt nicht das, was es tatsächlich ist.
Das heißt, Sie würden sagen, dass das Bewusstsein für das Thema in Ihrem beruflichen Umfeld teilweise noch zu gering ist?
Ja, weil es einfach so schwer vorstellbar ist. Deswegen werden auch meines Erachtens immer noch deutlich zu niedrige Schmerzensgeldbeträge zugesprochen, weil Menschen, die nicht betroffen sind, nicht wissen, was der Gesundheitsschaden tatsächlich im Alltag, in der Freizeit, im Familien- und Arbeitsleben nach sich zieht. Ich finde es wichtig, diese Folgen deutlich zu schildern, was nicht bedeutet, dass das immer erfolgreich ist. Oft genug rede ich mir den Mund fusselig und trotzdem sagen die Gerichte: Wir wollen das nicht ausarten lassen, warum auch immer.
Vor Gericht steht dann vermutlich oft Aussage gegen Aussage, Gebärende gegen Krankenhauspersonal. Wie kann es in solchen Situationen gelingen, die Belange der Betroffenen durchzusetzen?
Es ist in der Tat schwierig für Betroffene, denn grundsätzlich ist es so, dass die Patientinnen die volle Darlegungs- und Beweislast tragen. Das heißt: Beweismängel gehen zulasten der Patientin. Beweise können zum Beispiel Zeug:innen sein, die bei einer Geburt ja im Regelfall dabei sind. Ich würde immer empfehlen ein Gedächtnisprotokoll anzufertigten, WhatsApp-Nachrichten, in denen über die Behandlungsfehler berichtet wird, aufzubewahren, oder Fotos zu machen, etwa von Wunden nach dem Kaiserschnitt. Und generell kann ich allen Frauen raten, nicht blauäugig in die Geburt zu gehen, sondern kritisch nachzufragen und zu verstehen, was passiert. Das halte ich für wichtig und darauf haben Patientinnen einen Anspruch.